Stress und Achtsamkeit
In meinen letzten beiden Artikeln zum Thema Stress habe ich erklärt, was Stress ist und welche Funktion bzw. welchen Nutzen er für unser Leben hat, aber auch, welche gesundheitsschädigenden Folgen er haben kann, wenn wir keinen förderlichen Umgang mit ihm finden. Beschrieben habe ich auch den Unterschied zwischen Stressauslöser und Stressreaktion sowie deren Wechselspiel. Außerdem habe ich aufgezeigt, wie aus akutem Stress chronischer Stress werden kann und welche körperlichen und seelischen Konsequenzen dies haben kann. In diesem Kontext habe ich gezeigt, wie die Entwicklung vom akuten zum chronischen Stress bei Kindern im Zusammenhang mit Lernen und Schule ablaufen kann (Teil 1).
Im Folgeartikel (Teil 2) habe ich erläutert, dass es möglich ist, einen gesunden Umgang mit Stress zu finden, indem man zunächst einmal den Stress und die Körperreaktionen darauf bemerkt, um so eigene Verhaltensmuster zu erkennen und ein besseres Körpergefühl zu entwickeln. An dieser Stelle habe ich den Begriff „Achtsamkeit“, wie sie hier verstanden wird, eingeführt. Außerdem habe ich aufgezeigt, was Achtsamkeit uns lehrt sowie deren Nutzen im Hinblick auf die Stressbewältigung angesprochen.
Bevor ich abschließend in Teil 4 der Blog-Serie zum wissenschaftlichen Hintergrund bzw. den Forschungsergebnissen im Zusammenhang mit Achtsamkeit und MBSR komme, möchte ich praktische Möglichkeiten aufzeigen, Achtsamkeit in unser Leben zu integrieren – mit Leichtigkeit und ohne Vorbildung und besondere Vorbereitungen. Denn das ist es letztendlich, was uns dabei hilft, mit den Höhen und Tiefen des Lebens und mit dem damit verbundenen Stress bewusster umzugehen und dadurch gelassener und zufriedener zu werden.
Den Anfang machen
Es ist erstaunlich wenig nötig, um Achtsamkeit in den Lebensalltag zu integrieren und das eigene Leben achtsamer zu gestalten. Wir benötigen dafür keine besondere Ausrüstung, kein Material oder vorbereitende Kurse. Wir können jetzt anfangen, sofort, ohne Umwege. Vielleicht sorgt gerade dieser Umstand dafür, dass es uns manchmal so schwierig erscheint. Wir können uns nicht dahinter verstecken, dass noch gar nicht alles vorbereitet und angeschafft ist oder wir uns noch nicht genug mit der dahinterstehenden Theorie befasst haben. Das alles ist nicht nötig. Es bedarf keiner Vorbereitung. Es bedarf eines Entschlusses, der Bereitschaft, wirklich etwas zu verändern. Manchmal hilft das Lesen eines (Blog-) Artikels, ein Buch oder ein inspirierendes Gespräch, das in einem den Wunsch aufkeimen lässt, mehr zu leben und weniger im Autopiloten zu agieren und dabei das Leben zu verpassen.
Unser Atem
Die zentrale Bedeutung unseres Atems für unser Leben zeigt sich darin, dass er uns von unserer Geburt bis zu unserem Tod, unserem letzten Atemzug, begleitet. Er bedeutet Leben. In unserer Atmung zeigt sich, wie es uns geht. Ist unsere Atmung zum Beispiel durch eine Atemwegserkrankung oder eine Verletzung eingeschränkt, leidet unser Wohlbefinden erheblich. Ein flacher Atem ist ein Zeichen für Angst und Stress – es geht uns nicht gut. Ist die Atmung tief und regelmäßig, fühlen wir uns wohl und lebendig. Die große Chance liegt darin, dass wir unseren Atem beeinflussen können, denn damit können wir auch unser Wohlbefinden beeinflussen. So können wir uns zum Beispiel mit der Konzentration auf den Atem selbst beruhigen und Stress reduzieren (Aktivierung des Parasympathikus, Abbau von Stresshormonen, vom Zerstreuungsmodus zum Konzentrationsmodus, vgl. Artikel Achtsamkeit, Meditation und Lernen). Im Folgenden ein paar Übungen, mit denen Sie die Wirkung des bewussten Atmens selbst erfahren können.
Atmen – Übungen für den Anfang
- Atmen im Sitzen: Setzen Sie sich aufrecht auf einen Stuhl. Die Hände können im Schoß ruhen oder auf den Oberschenkeln abgelegt werden. Die Füße stehen parallel auf dem Fußboden. Die Augen geschlossen oder mit entspanntem Blick nach vorne richten. Den Atem wahrnehmen, wie er fließt. Wenn es hilfreich ist, legen Sie eine Hand auf den Bauch und vertiefen den Atem. Spüren Sie, wie die Luft bis in den Bauch einströmt. Die Bauchdecke hebt und senkt sich, mit der Hand spüren Sie die Bewegung. Atmen Sie mindestens eine Minute auf diese Weise. Sie können die Übung beliebig verlängern. Sie ist leicht zwischendurch durchzuführen, auch am Arbeitsplatz. Sie werden Ihre positive Wirkung gerade an hektischen Tagen bemerken.
- Atmen im Stehen: Stehen Sie aufrecht und bequem. Die Füße etwa hüftbreit auseinander und parallel. Finden Sie einen stabilen Stand. Spüren Sie die Verbindung zum Boden, der Sie trägt. Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge und lassen Sie den Atem dann fließen, in seinem eigenen Rhythmus. Diese Übung können Sie jederzeit machen, zu Hause, aber zum Beispiel auch an der Bushaltestelle. Wenn Sie die Augen geöffnet halten, fällt es niemandem auf, dass Sie gerade bewusst atmen.
- Atmen im Liegen: Legen Sie sich bequem auf den Rücken. Spüren Sie, wie Ihr Körper auf dem Boden aufliegt. Lassen Sie Ihr Gewicht ganz in den Boden sinken. Sie dürfen entspannen. Falls Sie Irgendwo Anspannungen bemerken, lassen Sie diese bewusst locker, wenn das möglich ist. Nehmen Sie den ganzen Körper wahr, bemerken Sie dabei auch, wie der Atem fließt. Wenn Sie möchten, legen Sie eine Hand auf den Bauch und vertiefen die Atmung. Atmen Sie ein paar Minuten auf diese Weise. Spüren Sie in Ihren atmenden Körper hinein.
Für alle Übungen gilt: Es ist ganz normal, dass Gedanken auftauchen, die Sie vom Atem ablenken. Wenn Sie dies bemerken, kehren Sie zum Atem zurück, ohne dies zu bewerten. Es wird immer wieder passieren und ist Teil der Übung. Auch Kinder lernen diese Übungen spielerische und ich habe in der Praxis bemerkt, dass sie es wirklich genießen, zur Ruhe zu kommen.
Unsere Körperempfindungen
Wir haben uns in unserer Gesellschaft weit vom Gespür für unseren Körper entfernt. Die Fähigkeiten unseres Geistes wurden und werden überbetont, während unserer Körperlichkeit über das äußere Erscheinungsbild hinaus wenig Bedeutung beigemessen wird. Das ist schade, denn hier liegt viel Weisheit, die ungenutzt bleibt, wenn wir uns ihr nicht zuwenden.
Wenn wir zum Beispiel ein Gespräch führen, dass uns „irgendwie unangenehm“ ist, können wir uns den Körperempfindungen, die in diesem Moment auftauchen, zuwenden. Dadurch ist es möglich, mehr über die Ursache für dieses Unwohlsein zu erfahren, über die inneren und äußeren Stressoren. Vielleicht haben wir Magenschmerzen, Herzklopfen, ein Druckgefühl in der Brust, bekommen Kopfschmerzen (Unterdrückung der Stressreaktion)… Was wird in diesem Moment ausgelöst? Was fühle ich? Diese Bewusstmachung ist ein erster Schritt, der es ermöglicht, mehr bei sich zu bleiben und nicht aus dem Autopiloten heraus zu reagieren.
„Es gehört zur Definition der Stressreaktion, dass sie im Großen und Ganzen unbewusst und automatisch abläuft, wenn auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle eine große Zahl hochgradig komplexer und koordinierter kognitiver Prozesse an ihr beteiligt sind. Sobald man aber bewusst wahrnimmt, was in einer stresserzeugenden Situation tatsächlich geschieht, hat man diese Situation auch schon grundlegend verändert und sich einen kreativen Freiraum erschlossen. Und da man selbst Teil der Wirklichkeit der ganzen Situation ist, verändert man ihr Gefüge durch das bloße Gewahrsein dessen, was geschieht, sogar noch bevor man in irgendeiner Form aktiv wird.“ (Jon Kabat-Zinn 2013, Gesund durch Meditation, S. 436)
Körperwahrnehmung – Übungen für den Anfang
Wir können während des Tages in jeder beliebigen Situation in unseren Körper hineinspüren und uns so ganz den Empfindungen im gegenwärtigen Moment zuwenden. Für den Anfang ist es aber sicherlich hilfreich, einen ruhigen Moment, in dem wir alleine sind, zu wählen. Haben wir mehr Übung, ist es uns auch bei äußeren Ablenkungen möglich, ganz bei uns und unseren Empfindungen zu bleiben, aber das erfordert ein wenig Geduld.
Suchen Sie sich eine ruhige Umgebung, in der Sie für einen Moment ungestört stehend, sitzend oder liegend verweilen können. Finden Sie eine bequeme Position, in der Sie Ihren Körper lockerlassenkönnen. Wenn Sie möchten, schließen Sie die Augen. Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge. Lassen Sie danach Ihren Atem fließen. Spüren Sie in Ihren Körper: Was zeigt sich hier? Sie können den Körper systematisch von den Füßen zum Kopf oder umgekehrt durchgehen und so einen Moment in jede Körperregion hineinspüren. Vielleicht gibt es aber auch eine besonders starke Empfindung in einer Körperregion, die Ihre Aufmerksamkeit fordert. Vielleicht schmerzt der untere Rücken, sie haben ein Druckgefühl im Magen oder in der Brust oder der Nackenbereich ist verspannt… Sie können sich dann diesem Bereich zuwenden, in ihn hineinatmet, ohne sich von dieser Empfindung mitreißen zu lassen und diese zu bewerten. Spüren Sie abschließend noch einmal in den Körper als Ganzes hinein und nehmen ihn ganz im gegenwärtigen Moment wahr. Sie können diese Übung für eine Minute machen oder den Zeitraum ausdehnen.
Das Hier und Jetzt
Der gegenwärtige Moment ist der einzige, den wir wirklich beeinflussen können. Hier leben wir – nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Aber warum ist es sinnvoll, mit unserem Bewusstsein mehr im Hier und Jetzt zu sein und weniger in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Was spielt das für eine Rolle für unser Leben? Wissenschaftler der Harvard Universität haben durch eine Forschungsarbeit mit einer Handy-App bestätigt, „was spirituelle Lehrer bereits seit Tausenden von Jahren behaupten: Ein abwesender Geist ist ein unglücklicher Geist.“ (vgl. Wolf/Serpa 2016, Die Kunst, Achtsamkeit zu lehren, S. 212)
Im gegenwärtigen Moment sein – Übungen für den Anfang
- Bei sich ankommen: Während des Tages immer wieder innehalten und die gegenwärtige Situation bewusst wahrnehmen. Was tue ich gerade? Welche Körperempfindungen habe ich? Wie fließt mein Atem? Das kann während der Arbeit am Computer sein, während des Kochens oder auch unter der Dusche… Diese Übung können Sie auch immer mal wieder zusammen mit Ihrem Kind machen.
- Signal setzen: Um die obige Übung möglichst oft während des Tages durchzuführen, kann es hilfreich sein, ein „Signal“ zu installieren, das uns immer wieder daran erinnert. Es gibt zum Beispiel spezielle Apps, die einen sogenannten „Achtsamkeitsgong“ zur Verfügung stellen, den man nach seinen Bedürfnissen einstellen kann. Sie können auch die Wanduhr nehmen, die vielleicht stündlich läutet. Seien Sie kreativ! Gerade zu Beginn der Praxis ist es hilfreich, zwischendurch erinnert zu werden.
- 2 Füße, ein Atemzug: Dies ist eine sehr kurze Achtsamkeitsübung, die sich besonders auch für Kinder eignet. Sie macht uns immer wieder bewusst, dass wir in einem Körper leben: Fühlen Sie zuerst den einen Fuß und dann den anderen Fuß (bei Kindern mit Anheben der Füße unterstützen), danach einen bewussten Atemzug nehmen. Wiederholen Sie das, wenn möglich, mehrfach während des Tages (vgl. Wolf/Serpa 2016, Die Kunst, Achtsamkeit zu lehren, S. 212).
Dinge bewusst tun
Es gibt viele Dinge in unserem Leben, die wir automatisch tun, ohne Ihnen große Aufmerksamkeit zu schenken, mit den Gedanken sind wir währenddessen meistens ganz woanders. Gerade diese Dinge ermöglichen es uns, unsere Aufmerksamkeit zu fördern und damit Achtsamkeit in unserem Leben zu integrieren.
Bewusstes Tun – Übungen für den Anfang
- Bewusstes Zähneputzen: Wir alle putzen uns mehrmals täglich die Zähne, ohne darüber nachzudenken und uns dessen wirklich bewusst zu sein. Nehmen Sie Ihre Zahnbürste aus dem Zahnputzbecher. Wie sieht sie aus? Wie ist sie beschaffen? Nehmen Sie auch die Zahnpasta und das Wasser, das Sie benötigen, bewusst wahr. Beginnen Sie mit dem Putzen. Wie schmeckt die Zahnpasta? Wie fühlt sich die Zahnbürste in Ihrem Mund an? Verändert sich im Laufe des Putzvorgangs etwas? Seien Sie sich jeder Empfindung bewusst. Wenn Gedanken auftauchen, bemerken Sie diese und kehren mit der Aufmerksamkeit zum Zähneputzen zurück. Beobachten Sie, wie sich die Übung mit der Zeit verändert.
- Zähneputzen ist nur ein Beispiel, Sie können auch das Duschen, Rasieren, Putzen nehmen. Seien Sie auch hier kreativ!
- Dinge mit der nichtdominanten Hand tun: Die meisten von uns haben eine dominante Hand, mit der wir nahezu alle Aktivitäten des täglichen Lebens erledigen. Mit dieser Hand schreiben wir, schmieren uns morgens ein Brot und streicheln wir unsere Katze. Wir können es aber auch einmal mit der nichtdominanten Hand ausprobieren: Suchen Sie sich eine Aktivität des täglichen Lebens aus und erledigen Sie diese mindestens eine Woche (sie können auch dauerhaft dabeibleiben) mit der nichtdominanten Hand. Sie werden bemerken, dass dies sehr viel mehr Konzentration erfordert, so dass Sie wirklich bei der Sache sind. Sich das Gesicht mit der nichtdominanten Hand einzucremen, geht plötzlich nicht mehr nebenbei. Sie sind aufmerksam bei der Sache, um sich die Creme nicht ins Auge oder die Haare zu schmieren. Das ist auch eine tolle Übung für die ganze Familie: Kinder fühlen sich angespornt, auch die „andere“ Hand zu trainieren und freuen sich, wenn es immer besser funktioniert.
Ausblick
Ich wünsche Ihnen viele achtsame Momente beim Ausprobieren der Übungen. Seien Sie immer auch offen dafür, die Übungen Ihren eigenen Bedürfnissen anzupassen. Die oben vorgestellten Anleitungen sind Vorschläge, die auch verändert werden dürfen. Dadurch wird die Praxis lebendig.
Im nächsten Blog-Beitrag greife ich abschließend die Forschungsergebnisse zum Thema Achtsamkeit und MBSR auf, um deutlich zu machen, dass die Wirksamkeit der Achtsamkeitspraxis zur Stressbewältigung auf einem wissenschaftlichen Fundament steht, das gleichermaßen fundiert und nachvollziehbar ist.
Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gute Zeit. Bleiben Sie gesund!
Herzliche Grüße
Inga Schulz