Stress
Das Thema Stress behandele ich in mehreren aufeinanderfolgenden Artikeln, die jeweils unterschiedliche Aspekte zum Schwerpunkt haben und aufeinander aufbauen. Falls Informationen zu fehlen scheinen oder es zu Verständnisfragen kommt, kann es daher hilfreich sein, in einem der vorherigen Artikel nachzulesen.
Gesunder Umgang mit Stress
Wenn der Steinzeitmensch mit dem wilden Tier gekämpft hat, war das durchaus ein gesunder Umgang mit Stress. Wenn er blitzschnell entschieden hat, die Beine in die Hand zu nehmen und zu fliehen, auch. Auch wenn beides natürlich ungesunde Konsequenzen haben konnte, weil das Tier den Kampf oder den Wettlauf durchaus für sich entscheiden konnte. Die bereitgestellte Energie wurde aber in jedem Fall verbraucht, die Stresshormone Adrenalin und Cortisol am Ende abgebaut. Der Mensch konnte wieder zu einem ausbalancierten Zustand gelangen. Dieses Beispiel lässt sich auch auf die heutige Zeit übertragen: Gehen wir zum Beispiel über eine Straße und plötzlich kommt ein Auto um die Ecke geschossen, mobilisieren wir blitzschnell unsere Energie und springen von der Straße, um nicht erwischt zu werden – also Flucht, Kampf bietet sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht an.
Stress in der modernen Gesellschaft
Wie im letzten Artikel angesprochen, sind die Stressreize in der modernen Gesellschaft vielfältiger als in der Steinzeit. Oft sind es viele kleine Dinge, die passieren, sich nach und nach summieren und dann dazu führen, dass wir uns gestresst fühlen: Morgens ein wichtiger Termin – und wir kommen zu spät, auf der Arbeit ein Streitgespräch mit einem Kollegen, das wir nicht aus dem Kopf bekommen, am Nachmittag die Kinder, die ihre Hausaufgaben nicht machen und einiges von uns fordern (5 in Mathe, Sportbeutel schon wieder im Bus vergessen) und abends verbrennt dann auch noch das teure Stück Fleisch in der Pfanne – dann eben kein Abendessen für die Familie. Alltäglicher (akuter) Stress. Solche Tage gibt es. Häufen sich diese Tage jedoch und kommt dann noch ein zusätzlicher Stressor dazu, wie zum Beispiel eine schwere Krankheit eines Angehörigen, wird aus akutem Stress leicht chronischer Stress, wenn wir keinen förderlichen Umgang damit finden (vgl. Teil 1). Dann reichen plötzlich Kleinigkeiten, um uns aus der Bahn zu werfen, bzw. um die automatische Stressreaktion auszulösen. Wann dieser Moment erreicht ist, welche Reize als Stressauslöser wirken und welche Stressreaktionen ausgelöst werden, ist individuell. Auch die Stresssymptome, die sich auf Dauer einstellen, variieren stark: Der eine bekommt Magenprobleme, der andere reagiert über das Herz-Kreislauf-System oder bekommt Schlafstörungen oder Rückenprobleme, um nur einige Möglichkeiten zu nennen.
Stress bemerken
Was also tun? Aussteigen, dieser hektischen und fordernden Gesellschaft den Rücken kehren? Auch wenn wir manchmal davon träumen, kommt es für die meisten von uns wohl nicht in Frage und würde ja auch heißen, dass wir auf vieles Schöne verzichten müssten. Also gilt es, einen anderen Umgang mit den Anforderungenund der Hektik zu finden und damit einen Veränderungsprozess einzuleiten. Der erste Schritt ist deshalb, die „vielen kleinen Dinge“ (Stressreize, Stressoren) zu bemerken. Bemerken, dass da etwas in mir, in meinem Körper, in meinem Geist passiert, wenn ich die Zeit knapp kalkuliere und zu spät komme, wenn ich mich schon wieder mit dem Kollegen streite, wenn die Kinder meine Erwartungen nicht erfüllen… Vielleicht verkrampft sich mein Bauch, verspannt sich mein Nacken, wird mir heiß oder kalt oder ich bekomme Kopfschmerzen. Oder ich werde ungeduldig, ärgerlich, wütend, möchte nur noch schreien. Diese Dinge lassen sich mit etwas Übung beobachten. Ein neuer Blick auf den gegenwärtigen Moment wird möglich, ein Freiraum entsteht. Wahlmöglichkeiten für eine Reaktion werden erkennbar – die erstmal darin bestehen können, Abstand zu gewinnen oder eine Pause einzulegen.
Deshalb ist es wichtig, die Signale des Körpers und des Geistes sehr genau wahrzunehmen, um sich anbahnenden Stress frühzeitig zu erkennen.
Verhaltensmuster erkennen – Körpergefühl entwickeln
Aber: Das ist erstmal gar nicht so einfach. Wahrscheinlich wird es zunächst nicht oft gelingen, den Stress anhand der vielen Stressreize frühzeitig zu erkennen, sondern erst, wenn wir wirklich nicht mehr können, wütend sind, ängstlich, das Gefühl haben, neben uns zu stehen und uns ausgebrannt fühlen. Oft tun oder sagen wir dann Dinge, die uns später leidtun. Aber auch uns selbst gegenüber verhalten wir uns lieblos und zerstörerisch, denn uns selbst bringen wir oft am wenigsten Verständnis entgegen, wenn etwas nicht so läuft wie geplant oder erhofft, wenn die Kräfte nachlassen und wir eigentlich eine Pause bräuchten.
Doch hier liegt auch ein entscheidender Schlüssel für Veränderung. Wir können uns diese Situationen im Nachhinein „anschauen“, dadurch wird es möglich wiederkehrende Momente zu erkennen, Verhaltensmuster, Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle.
Dadurch entsteht mit der Zeit Bewusstheit für unsere Empfindungen und das daraus resultierende Verhalten. Auch wenn wir das Verhalten oder die Körperreaktion zunächst nicht ändern können, so erhalten wir doch die Möglichkeit, zukünftig in einer ähnlichen Situation unsere Körperempfindungen und unser Verhalten bewusster wahrzunehmen, so dass wir ein wenig Abstand dazu gewinnen, vielleicht nicht sofort reagieren, sondern erst einmal durchatmen, uns Zeit nehmen. Das ist Achtsamkeit.
Achtsamkeit – eine Definition
Wie hilft uns Achtsamkeit nun dabei, einen gesunden Umgang mit Stress zu finden?
Beziehungsweise erst einmal: Was ist Achtsamkeit und wie wird sie hier über die bereits angesprochenen Aspekte hinaus verstanden?
Achtsamkeit bedeutet ganz im gegenwärtigen Moment präsent zu sein. Das Hier und Jetzt bewusst wahrzunehmen, ohne zu werten, ohne zu urteilen. Das heißt auch, den gegenwärtigen Moment anzunehmen, wie er sich jetzt darstellt. Egal, ob ich es gerade so haben möchte oder nicht. Das ist eine ganz schöne Herausforderung.
„Dieses Gewahrsein oder diese Achtsamkeit verlangt jedoch von uns, dass wir mit unserer Aufmerksamkeit ganz in der Gegenwart zu Hause sind und sorgsam mit dem umgehen, was uns auf dem Weg an Gefühlen, Erfahrungen und Einsichten begegnet. Für unsere praktischen Belange definiere ich Achtsamkeit, wie später noch deutlicher wird, als die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt.“ (Jon Kabat-Zinn 2013, Gesund durch Meditation, S. 29)
Was Achtsamkeit lehrt
Welchen Nutzen haben wir davon, wenn wir im gegenwärtigen Moment präsent sind, bewusst im Hier und Jetzt? Ist es nicht manchmal leichter, wenn wir mit unseren Gedanken „woanders“ sind, geistig irgendwohin „abtauchen“, weil das, was momentan geschieht, schmerzhaft ist und Leid bedeutet?
„Was Achtsamkeit uns lehrt, liegt auf mehr als nur einer Ebene: Sie lehr uns, vom Aktionsmodus in den Seinsmodus zu wechseln, Zeit für uns selbst zu beanspruchen, unseren Lebenspuls zu verlangsamen, innere Ruhe und Selbstakzeptanz zu pflegen, den Geist in seiner Sprunghaftigkeit zu beobachten, die Gedanken zu beobachten und loszulassen, ohne uns in sie zu verstricken oder von ihnen fortgetrieben zu werden. Achtsamkeit lehrt uns, vertraute Probleme in neuem Licht zu sehen und zu erkennen, wie alles miteinander zusammenhängt. Sollen diese Lehren uns aber erreichen, so müssen wir uns auf Augenblicke des Seins einlassen und in uns Bewusstheit pflegen.“ (Jon Kabat-Zinn 2013, Gesund durch Meditation, S. 73)
Die oben angesprochene Bewusstheit ist Übungssache und erfordert Geduld, denn es ist ganz normal, dass unser Geist „umherspringt“ und wir uns immer wieder in Geschichten verlieren. In unserer reizüberfluteten Gesellschaft haben wir uns drastisch davon entfernt, bewusst zu sein. Multitasking war lange Zeit eine Auszeichnung. Wer es beherrschte, war einerseits „wichtig“ und einflussreich, andererseits aber auch ein Macher/eine Macherin, der/die erfolgreich viele Aufgaben und Projekte gleichzeitig bewältigen konnte. Das hatte und hat zum Teil immer noch einen hohen Stellenwert – auch wenn wir heute wissen, dass es gesundheitsschädlich ist. Wir können uns nur auf eine Sache zurzeit konzentrieren, ohne dass die Qualität darunter leidet – und unser Körper und unsere Psyche. Viele Menschen bemerken dies erst, nachdem sie einen Weckruf körperlicher, psychischer oder sozialer Natur bekommen – in Gestalt eines Herzinfarkts, eines Burnouts oder den Verlust von Beziehungen. Das Leid ist dann entsprechend groß. So weit muss es aber nicht kommen. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, unser Tempo zu reduzieren und danach zu schauen, wie es uns wirklich geht.
Achtsamkeit unterstützt uns bei diesem Prozess in vielerlei Hinsicht – und ist deshalb ein so wirkungsvolles „Mittel“ bei der Stressbewältigung.
Ausblick
Ich möchte die Wirksamkeit von Achtsamkeit im Umgang mit Stress noch vertiefen und zeigen, wie es möglich ist, Achtsamkeit in sein Leben zu integrieren und dadurch zu mehr Gelassenheit zu gelangen. Auch auf die Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit Achtsamkeit und MBSR werde ich noch eingehen, um zu einem tieferen Verständnis zu gelangen.
Bis dahin wünsche ich Ihnen und euch eine gute Zeit!
Herzliche Grüße
Inga Schulz