Achtsamkeit – Wirksamkeit auch bei Kindern und Jugendlichen?
Eine junge Frau hat sich vor ein paar Tagen bei mir gemeldet, weil sie anfangen möchte, ihre Bachelorarbeit über MBSR bzw. Achtsamkeit bei Kindern und Jugendlichen zu schreiben und mich um Unterstützung bei der Literaturrecherche gebeten hat. Ich habe mich sehr darüber gefreut, weil ich dieses Thema aus offensichtlichen Gründen sehr spannend finde.
Nicht so sehr, weil ich unbedingt Belege für die Wirksamkeit meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen benötige, sondern vielmehr, weil es mich freut, dass Achtsamkeit auch in diesem Bereich immer mehr Fuß fasst und bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken ist. Da ich weiß, dass die Datenlage relativ überschaubar ist, halte ich es für dringend notwendig, hier eine Lücke zu schließen, um so die Reichweite zu erhöhen und das Vertrauen in diese Arbeit bzw. „Lebensweise“ zu stärken. Ich freue mich auf die Ergebnisse dieser Arbeit!
Achtsamkeitsformate ohne Effekte
Eine Kollegin hat mir kürzlich diesbezüglich einen interessanten Artikel weitergeleitet, an den ich nach Anfrage der Studentin wieder gedacht habe und der deutlich macht, dass auf wissenschaftlicher Ebene noch einiges zu tun ist.
Die Forscherin Catherine Johnson von der Universität Adelaide hat mit ihrem Team herausgefunden, dass ein Achtsamkeitsprogramm, das in England und Australien in neun wöchentlichen Sitzungen bereits an Schulen durchgeführt wird, keinerlei Effekte in Bezug auf die Selbstwahrnehmung bzw. die Selbstregulation der Kinder und Jugendliche zeigte (Depressivität, Ängstlichkeit, allgemeines Wohlbefinden, vgl. https://www.spektrum.de/news/kein-bock-auf-achtsamkeit/1529517).
Zu dieser Achtsamkeitsintervention an Schulen sowie zu anderen Formaten gäbe es ansonsten „gemischte Resultate“. Das heißt, die Ergebnisse sind nicht eindeutig und damit nicht aussagekräftig. Es gibt verschiedene Interpretationsansätze:
- Achtsamkeitsformate wirken bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlich nicht.
- Die untersuchten Achtsamkeitsformate sind nicht wirksam.
- Der Kontext Schule eignet sich nicht.
Kinder und Jugendliche profitieren von Achtsamkeit
Den ersten Punkt möchte ich an dieser Stelle ausschließen, da es durchaus nachgewiesene positive Effekte bei Kindern gibt, die sich allerdings nicht unbedingt auf das Lernen von Achtsamkeit im Schulkontext beziehen. Auch meine eigenen Erfahrungen sprechen dafür, dass Kinder und Jugendliche sehr von Achtsamkeit profitieren können, wenn sie diese angemessen und für ihre Lebenssituation passend lernen können. Dieser Punkt lässt aber durchaus Raum für einen weiteren Blog-Artikel.
Punkt zwei und drei sind meiner Ansicht nach entscheidend. Es ist davon auszugehen, dass vielen schulischen Achtsamkeitsformaten die nötige Intensität fehlt. Dies ist einerseits eine zeitliche Frage, andererseits aber auch eine Frage des Sich-Einlassens der Kinder und Jugendlichen.
Achtsamkeit braucht Zeit
Forschungen, die sich auf Erwachsene beziehen, untersuchen häufig Probanden, die eine intensive Achtsamkeitspraxis haben bzw. zu dieser Zeit täglich praktizieren. Die Ergebnisse sind hier eindeutig: Positive Effekte sind messbar – sowohl auf Ebene der Selbstregulation als auch auf Ebene der Hirnstruktur.
Eine derartige Intensität kann meiner Ansicht nach in Schulen unter gegebenen Umständen nicht gewährleistet werden. Außerdem ist nicht davon auszugehen, dass Kinder regelmäßig zu Hause praktizieren, so dass die Praxiszeit auf die Schule begrenzt ist. Dadurch ist die Anzahl der effektiv geübten Stunden sehr gering. Messbare Effekte bei Erwachsenen gibt es erst nach fünf Stunden, so eine Studie.
Achtsamkeit braucht Sich-Einlassen
Außerdem ist es für viele Jugendliche schwierig, in der Schule eine weitere Rolle einzunehmen. Jugendliche sind in der Schule Schülerinnen und Schüler, Freund oder Freundin. An diese Rollen werden Erwartungen geknüpft, die für sie nicht damit zusammenpassen, in diesem Kontext auch noch Achtsamkeit zu lernen – sich zum Beispiel als „coole“ Freundin ganz darauf einzulassen, den Atem und den Körper zu spüren.
Das Versprechen, dass sie sich damit für die Zukunft gegen Stress „impfen“, ist ihnen zu vage.
Achtsamkeit – Erfolgreicher Zugang über konkretes Anliegen
Haben Kinder und Jugendliche allerdings ein konkretes Anliegen, zum Beispiel wenn sie in der Schule regelmäßig unter Blackouts leiden, ist es für sie deutlich einfacher, sich auf Achtsamkeitsübungen einzulassen. Im Lerncoaching arbeite ich deshalb in jeder Sitzung auch mit Achtsamkeitsübungen. Die Kinder und Jugendlichen sind offen und interessiert und probieren die Übungen auch für sich zu Hause oder in der Schule aus.
Warum Achtsamkeit?
Ich habe bei meiner Arbeit gerade mit Jugendlichen festgestellt, dass sie sich leichter auf die Übungen einlassen können, wenn ich ihnen erkläre, was dabei in ihrem Körper und besonders in ihrem Gehirn passiert. Natürlich brauchen sie in erster Linie die eigene Erfahrung, die sie bei den Achtsamkeitsübungen machen, aber auf diese können sie sich oftmals erst einlassen, wenn „Glaubwürdigkeit“ hergestellt wurde. Dies gelingt mit einer vielseitigen Auseinandersetzung mit diesem Thema. So werden Unsicherheiten abgebaut und Ablehnung weicht Neugier und echtem Interesse. Das ist eine gute Basis!
Ich bin dankbar, dass ich auf diese Weise mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Lernenden) arbeiten kann!
Herzliche Grüße
Inga Schulz