Reden – Warum wir öfter zuhören sollten
Reden im Alltag
Während meiner Arbeit rede ich viel. Das gehört zu meinem Beruf als Lehrerin und Lerncoach. Auch als Achtsamkeitslehrerin spreche ich während der Stunden, wenn ich die Anleitungen für Meditationen oder Yogaübungen durchführe. Das alles ist wertvoll und natürlich auch wünschenswert – und ich tue es gern. Würde ich das Sprechen drastisch reduzieren, könnte ich meinen Beruf nicht mehr ausüben. Und auch mein Privatleben würde ganz schön auf den Kopf gestellt werden, wenn ich mich sprachlich nicht mehr zum Ausdruck bringen würde.
Sprache als wertvolle kulturelle Errungenschaft
Sprechen und der sprachliche Austausch sind wichtige Aspekte unseres menschlichen Miteinanders. Mit Sprache bringen wir unsere Bedürfnisse zum Ausdruck, bitten um Hilfe oder bieten diese an, machen unseren Standpunkt deutlich und vertreten unsere Meinung oder erzählen uns Geschichten. Die Fähigkeit zu sprechen, diese kulturelle Errungenschaft gepaart mit den physischen und intellektuellen Voraussetzungen des Menschen, ist ein Geschenk, für das ich, wie sicherlich viele von Ihnen und euch, sehr dankbar bin.
Licht und Schatten
Um aber die positiven Aspekte von Sprache und Sprechen wirklich ausschöpfen zu können und eine tiefe und wertschätzende Kommunikation mit anderen Menschen zu erreichen, reicht es nicht, sprechen zu können. Es reicht nicht, seine Sicht der Dinge, seine Wünsche und Bedürfnisse mit ausgefeilter Grammatik und Syntax und in angemessener Lautstärke und Betonung zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen auch zuhören können. Still sein. Aufmerksam schweigen.
Wertschätzendes Zuhören
Zuhören – über das Aufnehmen akustischer Reize hinaus – bedeutet, aufmerksam und mitfühlend zu sein, dem anderen wach und mit Offenheit gegenüberzutreten, ohne ihn oder sie zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Es bedeutet, Wertschätzung gegenüber dem Gesprächspartner oder der Gesprächspartnerin zum Ausdruck zu bringen – gepaart mit der Bereitschaft, auch andere Meinungen neben der eigenen gelten zu lassen.
Manchmal gibt es keinen Kompromiss
Das heißt manchmal auch, etwas „so stehen zu lassen“, auch wenn es zu keiner Einigung gekommen ist und ein Konflikt bestehen bleibt. Es bedeutet, seinen Frieden damit zu machen, das andere den eigenen Standpunkt nicht teilen oder einen als Person abfällig behandeln oder beschimpfen. Das ist immer wieder herausfordernd und kann schmerzhaft sein, weil es vermeintlich an unserem Selbstwert und dem Bild, das wir von uns vermitteln möchten, kratzt. Es ist aber manchmal die einzige Möglichkeit, nicht in eine kräftezehrende „Eskalationsspirale“ zu geraten.
Denn in diesen Eskalationsspiralen offenbaren Sprache und Sprechen ihre destruktive Seite – im Großen, zum Beispiel national und international auf politischer Ebene, wie im Kleinen, in der Familie, in Freundschaften oder auf der Arbeit. Es kommt vermehrt zu Missverständnissen, Konflikten und Anfeindungen – also zu zwischenmenschlichem Leid, das verheerende Ausmaße erreichen kann. In letzter Konsequenz können Gewalt, Zerstörung und Tod die Folgen sein.
Zuhören ist aus der Mode gekommen
In den letzten Jahren fällt mir im Privaten wie im öffentlichen Raum immer häufiger auf: Viele Menschen können nicht mehr zuhören. Sie sind so mit sich selbst beschäftigt, dass kein Platz für echtes Zuhören zu sein scheint, keine Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen und dem anderen Raum zu schenken. Auch ich selbst ertappe mich dabei, dass ich meine eigenen Gedanken und Meinungen so überzeugend finde, dass ich regelrecht darauf „brenne“, sie in einer angeregten Unterhaltung „loszuwerden“. Wenn ich Glück habe, bemerke ich, dass ich ungeduldig auf meinen nächsten Redebeitrag warte und dabei meine Aufmerksamkeit vom Gespräch „abziehe“. Dann kann ich reagieren und mich bewusst wieder auf den anderen einlassen, mich also wieder ganz dem Zuhören widmen. Mit Blickkontakt und offener Präsenz. Bemerke ich es aber nicht, habe ich zumindest für diesen Moment die Verbindung verloren und kreise letztendlich um mich selbst. Zu einem wirklichen Austausch kann es in solchen Momenten nicht kommen.
Fernsehtalkshows – Die Negativbeispiele gelungener Kommunikation
Besonders deutlich wird dieses „Nicht-zuhören-Können“ in Fernsehtalkshows. Hier hören weder Moderatoren noch Gäste aktiv zu. Ständig wird einander lautstark und mit Vehemenz unterbrochen. Entweder, um den eigenen Beitrag zu ergänzen, das Gegenüber ins Unrecht zu setzen oder einen Beitrag zu unterbinden, weil das Gesagte für falsch gehalten wird.
Was steckt dahinter? Warum halten wir das, was wir selbst zu sagen haben, für so wichtig? Und das, was andere zu sagen haben, für so unwichtig, dass wir nicht einmal in der Lage sind, ihm für einen Moment unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken?
Ego und Selbstinszenierung
Ein Grund ist sicherlich, dass Kommunikation, der Austausch mit anderen, immer auch etwas mit dem eigenen Ego zu tun hat. Unser Wunsch, gut dazustehen, für intelligent und interessant gehalten zu werden und andere, wenn möglich, vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, ist tief verwurzelt. Dahinter steht, dass wir uns Anerkennung und Verbindung mit anderen Menschen wünschen. Das ist ein tiefes Bedürfnis, ein altes evolutionäres Erbe. Wir meinen, häufig unbewusst, dass wir uns selbst nur „ins rechte Licht rücken“ müssen, um diese Anerkennung zu bekommen. Ist unser Ego stark ausgeprägt, gleicht unsere Kommunikation mit anderen oft einer Theaterinszenierung – sie kann auf den ersten Blick wunderbar sein, aufregend und erfrischend, mit vielen inspirierenden Impulsen. Sie ist aber nicht „echt“, weil nicht der Mensch mit seinen ihm innewohnenden Fähigkeiten und Qualitäten zum Ausdruck kommt, sondern nur die Absicht, andere zu beeinflussen und sich selbst zu inszenieren, um ans vermeintliche Ziel zu gelangen. Das ist auf Dauer wenig förderlich, denn es schafft keine tiefen und vertrauensvollen Beziehungen, sondern fördert im Gegenteil die Vereinzelung und damit Einsamkeit – ein gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen. Diese Art der Kommunikation hinter sich zu lassen erfordert Bewusstheit und die Bereitschaft, anderen Raum zu geben und „ihr Licht zum Leuchten zu bringen“, während man selbst präsent, interessiert, offen und mitfühlend zuhört. Auch wenn es schwerfällt, das Gesagte „falsch“ ist oder wir uns verletzt fühlen.
Sich seinen Ängsten stellen – Entwicklung zulassen
Denn Kommunikation dient dazu, sich weiterzuentwickeln und auch anderen die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln. Wenn ich nur die Dinge wiedergebe, die ich sowieso schon weiß und mir bereits „erarbeitet“ habe, nur um mich selbst kreise, nimmt es mir die Möglichkeit, Neues zu erfahren, meinen Horizont zu erweitern und dabei eine „echte“ und tiefempfundene Verbindungen mit anderen Menschen einzugehen.
Dies kann manchmal auch bedeuten, sich seiner Angst zu stellen. Denn es besteht immer die Möglichkeit, dass das Neue das Alte und Vertraute ins Wanken bringt und dadurch ein Veränderungsprozess in Gang gesetzt wird, der jede Menge Unvorhergesehenes bereithält. Das ist der Fluss des Lebens. Hier entstehen positive Veränderungen und Entwicklung.
Was können die ersten Schritte sein? Wie kann es gelingen, besser zuzuhören, ohne sich selbst zu verleugnen? Wie ist es möglich, förderlich für mich und andere einzustehen?
Gelingende Kommunikation – Zuhören und sprechen
Zu einer ausgewogenen Kommunikation gehört beides gleichermaßen: bewusstes Zuhören und bewusstes Sprechen in Verbindung mit einer achtsamen Grundhaltung. Doch was heißt das genau?
Hier eine kleine Liste, die individuell angepasst werden kann:
- Eine Verbindung mit sich selbst herstellen: den Körper spüren, geistige Aktivität wahrnehmen und gegebenenfalls loslassen, den Fokus für einen Moment auf den Atem richten (und bei Bedarf immer wieder zwischendurch), oft ist es hilfreich, die Füße auf dem Boden zu spüren (Erdung);
- Hilfreiche Fragen: Bin ich in diesem Moment in der Verfassung, mitfühlend und zugewandt zuzuhören und freundlich und wertschätzend zu sprechen? Oder ist es besser, um einen Aufschub für dieses Gespräch zu bitten?
- Die Aufmerksamkeit zwischen sich und dem Gegenüber pendeln lassen: Was brauche ich, was braucht mein Gesprächspartner/meine Gesprächspartnerin in diesem Moment? Möchte ich zum Beispiel einen Rat geben, obwohl mein Gegenüber sich in diesem Moment nur einen Zuhörer/eine Zuhörerin wünscht? Impulse bewusst wahrnehmen und sich wieder mit sich selbst verbinden (Atem/Körper);
- Sich für eine Antwort/Reaktion auf das vorher Gesagte Zeit geben (frei nach Viktor Frankl: Zwischen Reiz und Reaktion ist ein Raum, der genutzt werden darf.), auf kränkende Äußerungen, Ironie, Sarkasmus etc. verzichten: innehalten, sich entspannen (vgl. Punkt 1);
- Eine offene Körperhaltung, Blickkontakt: Tendenzen bemerken, wenn ich mich verschließe (Verschränken der Arme, Abwenden des Blickes, Vergrößern des räumlichen Abstandes, Aufnehmen einer anderen Tätigkeit);
- Körperliche und geistige Reaktionen auf Gesagtes wahrnehmen: Unwohlsein, Verspannungen, Wut, Trauer, Angst, aber auch Freude, Zuversicht und Liebe…; Diese Reaktionen können auch benannt werden: Das Gesagte freut mich und löst bei mir ein warmes Gefühl aus./Das Gesagte löst bei mir Druck im Bauch, Ärger oder Verletztheit aus.
- Bemerken, wenn es aus Gründen der Fürsorge, auch der Selbstfürsorge, nötig ist, das Gespräch abzubrechen oder zu vertagen: Es ist nicht nötig und hilfreich, sich beschimpfen zu lassen, Dinge über sich „ergehen“ zu lassen. Es ist jederzeit möglich, um eine andere Form der Kommunikation zu bitten und deutlich zu machen, dass man auf diese Weise nicht mehr bereit dazu ist;
- Positive Impulse wahrnehmen, mögen sie auch noch so klein sein: Sie können der Keim für eine Annäherung sein und der Weg zu einer besseren Beziehung;
- Neugierig, interessiert und offen sein: Für ein besseres Verständnis auch mal nachfragen; akzeptieren, wenn das Gesagte nicht zum eigenen Weltbild zu passen scheint;
- Dinge „stehen lassen“ können: Es muss nicht für alles ein Kompromiss oder eine Lösung gefunden werden – Andersartigkeit darf sein und bereichert das Leben.
- Dankbar sein für die Vertiefung der Beziehung – oder für die Klarheit darüber, dass die Beziehung keine Zukunft hat. Auch das ist in Ordnung („friends for a lifetime” vs. „friends for a season/reason“);
- Leichtigkeit genießen! Es gibt ja auch die fröhlichen und entspannten Gespräche!
Ich wünsche Ihnen und euch Offenheit, Neugier und Mut auf dem Weg zu einer wertschätzenden Kommunikation!
Manchmal reicht es, still zu sein und einfach zuzuhören…
Herzliche Grüße
Inga Schulz