Ein Stück Bewegtheit
„Oh baby, baby it’s a wild world! I always remember you like a child girl!” Wild World, Cat Stevens
Vor ein paar Tagen habe ich dieses Stück von Cat Stevens auf einer längeren Autofahrt gehört und es hat mich tief bewegt und zu Tränen gerührt. Ich habe in diesem Moment mein Mutter-Sein intensiv gespürt. Dieses Mutter-Sein, das geprägt ist von ständigem Loslassen und Veränderung – wie das Leben an sich. Die Elternschaft lässt einen dieses aber auf besondere Weise erfahren. Von der Geburt bis zum Auszug unseres Kindes aus dem gemeinsamen Zuhause durchläuft es eine faszinierende und rasante Entwicklung – und wir mit ihm. Gerade noch hat sich unser Baby zum ersten Mal vom Rücken auf den Bauch gedreht, was wir mit großem Hallo gefeiert haben, jetzt steht es mit der Schultüte vor uns, trifft sich alleine mit Freunden, hat die erste Freundin, die erste Fahrstunde, macht bald den Schulabschluss… Wow, das alles in so kurzer Zeit! Ich erlebe diesen „Zeitraffer“ gerade sehr intensiv, besonders im Hinblick auf unseren älteren Sohn. Und mir wird deutlich, wie wichtig es ist, sich auf diesen Prozess einzulassen, ihn bewusst zu erleben – mit allem, was dazu gehört. Das darf auch mal schmerzhaft sein.
Dankbarkeit, Freude und Genuss
Zunächst ist da aber die Freude über die Entwicklung und Selbstständigkeit unseres Siebzehnjährigen, seine Offenheit, seine Freundlichkeit anderen Menschen gegenüber und das wunderbare Gefühl, in Verbindung zu sein – als Mutter und Sohn. Dafür bin ich unendlich dankbar.
Und da ist auch der Genuss der eigenen neugewonnene Freiheit mit zwei Teenagern: nicht immer da sein zu müssen, nicht immer ansprechbar, greifbar. Pläne mit meinem Mann zu schmieden, auszugehen – was auch immer wir unternehmen wollen, wo auch immer es uns hintreibt – das kann auch einfach mal eine Netflix-Serie sein. So viele Jahre war das kaum möglich.
Auch Traurigkeit darf sein
Aber da ist auch die Traurigkeit, die mich zu diesem Artikel inspiriert hat und die für mich eng mit dem Loslassen verbunden ist. Das ist keine verzweifelte Traurigkeit, sondern eher ein wehmütiges Wissen über Unwiederbringliches, das dem Leben grundsätzlich und der Elternschaft im Besonderen innewohnt und uns immer wieder herausfordert.
Veränderungen fordern heraus
Zu merken, dass Kinder selbstständig werden heißt ja immer auch, dass sie einen weniger oder vielmehr auf eine andere Weise brauchen. Nähe bekommt eine neue Qualität. Das Bedürfnis der körperlichen Nähe des Kleinkindes weicht, nach einigen Zwischenschritten, der Coolness des Teenagers, die phasenweise nur ein Schulterklopfen akzeptiert. Und obwohl ich weiß, dass das gut so ist, dass es so sein muss, trifft es mich manchmal hart. Denn es macht mir bewusst, dass die gemeinsame Zeit in einem gemeinsamen Zuhause sich dem Ende neigt, dass unser „Großer“ bald flügge wird und das Zusammensein sich dann auf Telefonate, Besuche und Urlaube reduziert. Auch das ist schön, auch das ist wertvoll, aber es bedeutet, dass ich mich als Mutter, wir uns als Eltern, neu definieren müssen. Manchmal gehen mir diese Veränderungen zu schnell und ich habe das Gefühl, „ich komme nicht mit“.
Alles hat seine Zeit
Als ich das Stück von Cat Stevens hörte, kam ich von einem Geburtstagsbesuch bei meinem Vater. Mein Bruder war auch da – mit meiner Nichte und meinem Neffen. Die beiden sind noch deutlich jünger als unsere Jungs und mir wurde schlagartig bewusst, dass diese Art von Zusammensein mit unseren beiden nicht mehr möglich ist. Wie leicht ist ein knapp Dreijähriger noch zu begeistern! Und wie zugewandt und interessiert ist eine Elfjährige! Es war schön, mit den beiden auf diese Weise Zeit zu verbringen.
Neue Qualitäten
Nein, ich wünsche mir nicht, dass unsere Kinder wieder klein sind, denn ich genieße die Gespräche, die ich heute mit ihnen führen kann, den Austausch auf ganz unterschiedlichen Ebenen und die „neuen“Aktivitäten. Die beiden Rockkonzerte zum Beispiel, die wir in diesem Monat zusammen besucht haben, waren toll und wir haben auch sonst, neben all den ganz normalen Höhen und Tiefen, wunderbare gemeinsame Momente. Trotzdem ist da aber manchmal auch ein mulmiges Gefühl.
Angst vor Veränderungen
Das Vertraute loszulassen und mich auf Neues einzulassen, bedeutet für mich auch Unsicherheit. Wie wird es sein, wenn unser älterer Sohn ausgezogen ist? Wie verändert sich unser Familienleben und welche neuen Herausforderungen kommen auf uns als Familie zu? Ich weiß, letztendlich ist auch diese Phase eine Fortsetzung dessen, was wir als Eltern schon von Anfang an erleben: Unsere Rolle als Eltern, mit allen elterlichen Qualitäten, ist in ständiger Bewegung und Veränderung. Und wir haben uns in den vergangenen 18 Jahren immer wieder angepasst. Sobald wir von der Schwangerschaft erfuhren, sind wir in die Elternrolle hineingewachsen – und dieses Hineinwachsen hört nie auf. Denn das, was gebraucht wird, ändert sich laufend. Und es braucht immer wieder Vertrauen, dass es gut ist, wie es ist. Es ist wichtig, auch das Liebgewonnene und Vertraute loszulassen, um Neues zu ermöglichen und diesem offen und interessiert zu begegnen. Es ist nicht besser oder schlechter – es ist anders. Veränderungen ermöglichen mir, neue Erfahrungen zu machen, mich zu entwickeln und letztendlich zu „wachsen“.
Loslassen bedeutet nicht Verlust
Und es ist beruhigend, zu wissen: Loslassen heißt nicht Verlust, sondern „es wieder in den Fluss zu geben“, indem ich nicht daran festhalte – weder an Menschen und Dingen noch an Gedanken, Gefühlen und Empfindungen. Festhalten ist ein unmögliches und auch ungesundes Unterfangen, das nur zu Leid führen kann. Denn die Dinge verändern sich unaufhörlich, das ich der natürliche Verlauf, das ist das Leben. Versuchen wir, dies aufzuhalten, begrenzen wir den natürlichen Fluss des Lebens. Das ist ein bisschen so wie die Begrenzung und Verengung eines Flusslaufes – das kann nicht gut gehen. Für unsere Kinder ist es deshalb ein großes Geschenk, wenn wir (sie) loslassen – nur so können sie sich selbstbewusst und frei entfalten – und auch immer wieder zu uns zurückkehren.
Ich wünsche dir den Mut, dich immer wieder neu darauf einzulassen.
Herzliche Grüße
Inga Schulz